Einstieg und Ausklang der diesjährigen Bildungskonferenz waren lyrisch und inhaltlich zugleich. Der Lyriker und Poetry Slammer Artem Zolotarov umrahmte mit zwei Beiträgen das Programm. Zu Beginn setzte er den Impuls mit dem berührenden autobiografischen Stück „Heimat“. Zum Abschluss fasste er die gesamte Konferenz mit einem vor Ort geschriebenen poetischen Text unter dem Titel „Ich mal ein Bild, das Deutschland heißt“ zusammen:
Neben den Dokumentationen in Plakatform sendeten die Teilnehmenden in den Workshops „Botschaften“ an verschiedene Adressaten zurück ins Plenum.
Elisabeth Ries, Referentin für Jugend, Familie und Soziales der Stadt Nürnberg nahm zu einigen dieser „Botschaften“ aus den Workshops Stellung und ordnete diese sozialpolitisch ein. Hierbei stellte sie nochmals den hohen Wert der institutionen- und rechtskreisübergreifenden Zusammenarbeit heraus. In Bezug auf eine Forderung zur kommunalen Verstetigung der „Anerkennungsberatung“ forderte sie, das „dysfunktionale System zu entrümpeln“. Auf der Basis klarer Prozesse könne dann die Kommune im Rahmen einer „Huckepackstrategie“ die Strukturen füllen und eventuell vorhandene Lücken gegebenenfalls mit kommunalen Mitteln füllen.
Die Sozialreferentin betonte die Chance eines inklusiven Blicks für die Fachkräftegewinnung: dafür müssten die Potentiale aller Menschen in den Blick genommen werden, sowohl im Bildungssystem wie in den Unterstützungs- und Beratungssystemen. Denn „Jeder Mensch kann etwas (anderes)“. Differenzierung sei dabei häufig der Schlüssel in Angeboten, wie z.B. bei den „sprachlich differenzierten Lernpfaden“, die im Workshop zum Berufssprachtest Deutsch gefordert wurden.
Dann könnte Begleitung auch bedarfsorientiert und unterstützend erfolgen, wie es im Workshop „Zugewanderte Frauen mit informellen Bildungsangeboten begleiten“ gefordert wurde. Hier brauche es ein gutes Zusammenspiel der verschiedenen Institutionen in Bezug auf Beratung und Begleitung und Angeboten zu Kinderbetreuung, Wohnen und Sprachlernen.
Ries forderte ebenso, dass Betriebe umfassend einbezogen werden und die Unterstützung im Bereich des Deutschsprachlernens als gemeinsame Aufgabe sehen. Modulare „Stück-für-Stück-Angebote“ wie z.B. Teilqualifizierungen seien hier ein guter Weg, um Motivation für das Weiterlernen zu ermöglichen.
Dörte Maack, die die Bildungskonferenz mit frischem „Hamburger Wind“ moderierte, leitete die Gesprächsrunde nach den Hauptvorträgen mit einer eindrücklichen Audiodeskription ein:
„Wir sehen einen großen Saal, Holzfußboden, viele Stühle, blaue Polster, eine Wand rot, eine Fensterfront mit Vorhängen zugezogen. Menschen sitzen auf den Stühlen, schauen nach vorne auf eine Bühne, dort ist eine Leinwand, ein Rednerpult, sechs, nein fünf kleine rote Sessel, eine Frau in einem roten Hosenanzug, floral gemusterte Bluse, schwarze Schuhe, weinrote Kette, blonde Haare, kinnlang, mit einem Headset. Die Kamera schwenkt auf vier Personen, schicke Schuhe, sorgfältig frisierte Menschen, gut gekleidet, es sind Frau Dr. Häublein, Herr König, Frau Mohr und Herr Paulus. Sie machen sich auf den Weg zur Treppe, erklimmen die Stufen sportlich, gehen auf die roten, kleinen Sessel zu, suchen sich den Platz. Dann nehmen sie Platz. Alle lächeln charmant ins Publikum.“
Frau Maack fragte ihre Gäste der Runde zum Einstieg nach ihren persönlichen Weiterbildungswünschen – auch hier standen Sprachkenntnisse hoch im Kurs.
Oberbürgermeister Marcus König umriss nochmals den hohen Bedarf für Fachkräfte in der Stadt Nürnberg, der sich u.a. auch beim Unterrichtspersonal für Sprachkurse oder im Bereich der Pflege niederschlägt. Die Stadt Nürnberg, in der 51% der Menschen einen sogenannten Migrationshintergrund haben, fahre verschiedene Strategien, um Mitarbeitende mit Zuwanderungsgeschichte anzusprechen. König brach auch eine Lanze für „nicht perfektes Deutsch“ und wies hier humorvoll auf das fränkische Idiom hin.
Auf ihre Frage nach dem Knackpunkt bei der Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Deutsch als Zweitsprache verwies Dr. Renata Häublein, Leiterin des Nürnberger Jobcenters darauf, dass in fast allen Branchen, in die vermittelt wird, Deutschkenntnisse relevant sind, aber gleichzeitig unbedingt kleine Schritte auf dem Weg notwendig sind, die einen schnelleren Start ermöglichen. „Integration heißt auch hier mitzumachen und dabei zu sein“. Um notwendige Qualifizierungen passgenau zu ermöglichen, brauche das Jobcenter weiterhin Mittel anstelle der angekündigten „extremen Einsparungen“, denn „jeder Fall ist anders und wir brauchen die perfekte Abstimmung“.
Xenia Mohr, Personalleiterin von wesgo ceramics forderte einen Blick auf die Ressourcen der Menschen jenseits von Zertifikaten: neue Mitarbeitende müssen zwar verstehen, was gesagt wird, die Beherrschung der deutschen Sprache kommt dann im Lauf der Zeit in der betrieblichen Praxis. Interessent/-innen lade sie immer zu einem Probearbeitstag ein, an dem eine gegenseitige „Bewerbung“ stattfände. „Der Mensch muss wollen, muss Begeisterung haben und das können Zeugnisse nicht ersetzen.“
Als Handwerksmeister sah Roland Paulus, Geschäftsführer von Elektro Engelhardt und Obermeister der Innung “Elektro und Informationstechnik“ Nürnberg-Fürth dagegen die Deutschsprachkenntnisse der Mitarbeitenden, die in kleinen Teams vor Ort beim Kunden agieren, als unerlässlich, damit keine Unzufriedenheit beim Kunden entstehe. Er forderte mehr Unterstützung für die Sprachbildung von der Politik ein, damit das Handwerk konkurrenzfähig bleiben könne.
Mit dem Aufruf des Oberbürgermeisters Marcus König „Wir brauchen Mut zur Veränderung. Nicht das Zeugnis, sondern der Mensch zählt“, und dem Appell von Frau Mohr, dass sich „jede Investition in Ausbildung, Weiterbildung und Fortbildung“ für Unternehmen auch betriebswirtschaftliche lohne, denn „es ist viel teurer, Menschen nicht zu beschäftigen, als Menschen zu beschäftigen und sie weiter zu qualifizieren“ endete die Gesprächsrunde mutmachend.
Daniel Terzenbach, Vorstand Regionen der Bundesagentur für Arbeit und seit kurzem Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten vollzog eine Standortbestimmung für den deutschen Arbeitsmarkt und leitete daraus Handlungsbedarfe für das Bildungssystem ab. Dabei benannte er den demographischen Wandel und die Digitalisierung unter besonderer Berücksichtigung künstlicher Intelligenz als Megatrends, deren Auswirkungen auf den deutschen Arbeitsmarkt und Wohlstand ungeachtet kurz- und mittelfristiger Krisen wie z.B. der Pandemie relativ stabil und daher gut kalkulierbar seien.
Daniel Terzenbach, Bundesagentur für Arbeit forderte einen vielfältigeren Arbeitsmarkt .
Seit der Zeit als Deutschland in den Nullerjahren des Jahrtausends als „kranker Mann Europas“ galt, sank die Zahl der Arbeitslosen und die Anzahl der Personen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wuchs. Auch im aktuellen Jahr 2023 stieg die Beschäftigtenanzahl trotz schwieriger Rahmenbedingungen um 200.000. „Dieser Zuwachs ist ausschließlich auf Nichtdeutsche zurückzuführen“, so Terzenbach. So sei angesichts der Überalterung der deutschen Gesellschaft Zuwanderung essenziell für die Sicherung des Wohlstands hierzulande. Vor diesem Hintergrund verwies er darauf, dass Abwehrdiskurse in der Migrationspolitik nicht ohne Folgen blieben für die dringend benötigten Fachkräfte aus dem Ausland. Er appellierte: „Das ist eine Kulturfrage: Sind wir ein Land, das Menschen willkommen heißt und das eine langfristige Integrationsstrategie hat?“
Bildung ist der Schlüssel
Terzenbach stellte klar, dass künstliche Intelligenz kein Jobkiller sei, weil Automatisierungsprozesse einerseits allein aufgrund des Schwunds an Arbeitskräften nötig seien und dass dadurch andererseits neue Jobs auf einem höheren Qualifikationsniveau entstehen würden. Für ihn sei „Bildung der zentrale Schlüssel“, um auf diese Entwicklung reagieren zu können. „50.000 Schulabgänger in Deutschland ohne Abschluss sind 50.000 zu viel“ konstatierte Terzenbach beim Blick auf den Übergang von der Schule in die berufliche Ausbildung.
Mit dem hohen Sockel an Langzeitarbeitslosigkeit, etwa 800.000 Menschen, die Deutschland Jahr für Jahr verlassen, der hohen Zahl von 4 Millionen arbeitenden Menschen ohne Berufsabschluss und auch der Gruppe der Älteren auf dem Arbeitsmarkt mit teils veralteten Qualifikationen wies Terzenbach auf weitere wichtige Potenziale hin, die durch das Bildungssystem stärker adressiert werden müssten, um das aktuelle Wohlstandsniveau angesichts der aufgezeigten Herausforderungen zu halten. „Wir müssen den Schalter zum lebenslangen Lernen umlegen“ und „Der Arbeitsmarkt muss bunter und vielfältiger werden“ war Terzenbachs Appell, der auf Rückfrage aus dem Publikum insbesondere inklusive Ansätze auch für Menschen mit Behinderung forderte.
Sprachkompetenz: mehr als Deutsch-Kenntnisse
Auch Ingrid Gogolin, Professorin an der Universität Hamburg, bezog sich in ihrer Key Note auf die Notwendigkeit von Zuwanderung zur Fachkräftesicherung und legte einen besonderen Schwerpunkt auf die sprachlichen Ressourcen von Menschen mit nichtdeutscher Herkunftssprache.
Aufgrund des Bahnstreiks war Prof. Dr. Ingrid Gogolin via Livestream aus Hamburg zur Veranstaltung zugeschaltet.
Dabei ging sie insbesondere auf Missverständnisse und Mythen rund um das Thema Mehrsprachigkeit ein. Dazu gehöre etwa die Vorstellung, dass Sprechen einer nichtdeutschen Herkunftssprache im Alltag den Erwerb der deutschen Sprache gefährde und damit den Erfolg im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt. Dabei werde der Wert der Herkunftssprache für das Erlernen des Deutschen vernachlässigt.
Dabei gelte, so Gogolin: „Jede Spracherfahrung geht in die nächste Sprachlernerfahrung ein. Wer vorherigen Spracherwerb ignoriert, ignoriert zentrale Ressourcen.“ Dementsprechend zeige sich in Untersuchungen in der Sekundarstufe, dass diejenigen Schülerinnen und Schüler mit der besten Beherrschung ihrer Herkunftssprache auch Deutsch am besten beherrschten. Wichtig sei daher, Mehrsprachigkeit nicht zu unterdrücken, sondern zu fördern, um gesellschaftliche Teilhabe und Beschäftigung zu ermöglichen. Abschließend rief sie dem Publikum ins Gedächtnis: „Bildung ohne Sprache ist nicht möglich, aber Bildung ohne Deutsch schon – und das fast überall auf der Welt“
Oberbürgermeister Marcus König begrüßte die fast 200 Teilnehmenden, die sich am 16. November 2023 im südpunkt zusammenfanden, darunter Vertreterinnen und Vertreter von Bildungsträgern, Arbeitsverwaltung, Kammern, der Stadtverwaltung und weiteren Organisationen.
König zitierte die aktuelle Betriebsbefragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Publikation – IAB – Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung), nach der im ersten Halbjahr 2022 45% aller Stellen für Fachkräfte nicht besetzt werden konnten und sah auch in der Stadt Nürnberg große Probleme insbesondere im Bereich des Baugewerbes, der personennahen Dienstleistungen und der Gastronomie.
Chancen der Grund-, Sprach- und Weiterbildung nutzen, um Fachkräfte zu gewinnen und zu halten
König verwies auch darauf, dass in ganz Europa der Fokus zunehmend auf Grund- und Weiterbildung im Sinne eines lebenslangen Lernens gesetzt wird, um qualifizierte Fachkräfte gewinnen und vor allem halten zu können. Auch die Arbeitgeberin Stadt Nürnberg bemühe sich hier umfassend um Talente.
Er appellierte: „Wir müssen die Chancen, die uns die Angebote der beruflichen Bildung, der Grund-, Sprach- und Weiterbildung bieten, noch viel besser nutzen, um unseren Fachkräftebedarf auch längerfristig decken und international konkurrenzfähig zu bleiben“ und verwies auf das Wechselspiel von Sprachbildung und beruflicher Praxis, die sich gegenseitig bedingen würden: „Damit berufliche Integration gelingen kann, brauchen wir frühzeitige und begleitende Sprachkursangebote. Und damit sprachliche Kompetenzen alltagsnah erweitert werden, braucht es Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen im Betrieb.“
König verwies auf städtische Angebote zur Unterstützung im Bereich Sprache, wie das Kommunale Programm Deutschspracherwerb, mit dem bedarfsorientiert Lücken im Sprachkursangebot des Bundes geschlossen werden. Mit den so erworbenen Sprachkenntnissen könnten Menschen dann mit Weiterbildungs- und Qualifizierungsangeboten auch beruflich weiterkommen.
Mit einem Dank an das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das im Rahmen des Programms „Bildungskommunen“ auch die Durchführung der Bildungskonferenz ermöglicht hat und einen Aufruf zu Hinweisen zu vermeidbaren Barrieren auf der Konferenz, leitete der Oberbürgermeister zum Konferenzprogramm über.
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