Bildung ohne Barrieren – Wie der Straßenkreuzer e.V. Menschen quer durch die Gesellschaft zusammenbringt

Bildung ohne Barrieren – Wie der Straßenkreuzer e.V. Menschen quer durch die Gesellschaft zusammenbringt

Ilse Weiß ist seit 2002 leitende Redakteurin beim Straßenkreuzer e.V. Im Gespräch geht es um die Bildungsarbeit des Vereins, mit der Menschen erreicht werden, die meist lange nicht mehr mit Bildungsangeboten in Berührung kamen.

Frau Weiß, Sie bezeichnen den Straßenkreuzer e.V. als soziales Projekt, welche Rolle spielt dabei die Bildungsarbeit?

Der Straßenkreuzer bietet seit 1994 Hilfe zur Selbsthilfe für Menschen mit wenig Geld, für Menschen ohne Obdach oder in prekären Wohnverhältnissen, für Langzeitarbeitslose. Bald war klar, und das ist ja erstmal keine neue Erkenntnis, dass der Zugang zu Bildung zum großen Teil von unseren Lebenserfahrungen und –umständen bestimmt wird. Wir haben daher möglichst schwellenfreie Bildungsprojekte, wie die „Schicht-Wechsel“-Führungen und die Straßenkreuzer Uni, aufgebaut. Das Besondere an ihnen ist, dass sie in alle Richtungen, in alle sozialen Schichten wirken und Begegnungen schaffen können.

Können Sie anhand der Straßenkreuzer Uni genauer schildern, wie dies gelingt?

Die Straßenkreuzer Uni ist mit dem Ziel gestartet, allen, die Freude an Bildung haben, ein Angebot zu machen. In erster Linie hat sich unser Angebot zuerst an arme, wohnungslose, langzeitarbeitslose Frauen und Männer gerichtet, auch an Menschen, die sich von herkömmlichen Angeboten nicht gemeint fühlen. Aber wir haben immer alle Bürgerinnen und Bürger eingeladen, wollten nie ein Nischenangebot. Die Themen der Vorlesungsreihen sind wissenschaftlich fundiert, haben aber auch immer etwas mit dem Leben zu tun. Es geht beispielweise um die Börse, das Glück und viel über juristische Themen. Für die Vorlesungen lädt die Uni Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft, Politik oder Wirtschaft ein. Die Angefragten kommen seit Jahren gerne, darunter waren beispielsweise Sabine Leutheusser-Schnarrenberger oder Heinrich Bedford-Strohm. Wir freuen uns über die hohe Nachfrage, so kann die Uni je Semester etwa 13 Vorlesungen anbieten. Hier kommen Menschen zusammen, deren Wege sich im Alltag nicht kreuzen. Um diese Schwellenüberschreitung ging es uns von Beginn an. Die Hörerinnen und Hörer wissen nicht, neben wem sie sitzen werden. In einem können sie sich allerdings alle sicher sein: Es kommen nur Menschen, die das Thema interessiert. Es gibt oft keine andere Verbindung und das kann dann doch eine sehr starke Verbindung sein. Das Interesse ist unabhängig, davon, ob man eine schicke Wohnung hat oder ob man das Zimmer mit zwei anderen teilt.

Die Straßenkreuzer Uni erreicht Menschen, die sonst nicht mit akademischer Bildung in Berührung kommen. Welche Aspekte sind dafür ausschlaggebend?

Wir lassen die Vorlesungen in Räumen stattfinden, die für die, die wir als allererstes meinen, ein Gewohnheitsort sind: Räume der Heilsarmee, Notschlafstelle, Wärmestube oder bei der Stadtmission. Zudem sind wir anfangs in Wohnungslosenpensionen gegangen, haben mit Sozialarbeitern geredet und Bewohner informiert. Das war ganz wichtig, damit die Menschen wussten, dass sie wie jeder andere eigeladen sind. Darüber hinaus legen wir Wert auf eine gut verständliche Vortragssprache. Das hat nichts mit einem simpleren Inhalt zu tun, sondern mit dem Anspruch, dass möglichst viele Menschen erreicht werden. Nach dem meist halbstündigen Vortrag ist es zudem wichtig, Zeit für Fragen und Diskussionen zu lassen. Viele Menschen aus den Unterkünften können Wissen aus ihrem früheren Berufsleben einbringen. Zu Semesterende erhalten alle Teilnehmenden beim Abschlussfest eine Urkunde als Zeichen der Anerkennung, wenn sie eine Vorlesungsreihe besucht haben.

Bei den „Schicht-Wechsel“-Führungen bieten von Armut, Obdachlosigkeit und Drogensucht betroffene Menschen selbst neue Einblicke für Bürger und Bürgerinnen. Welche gesellschaftliche Bedeutung hat dies aus Ihrer Sicht?

Bei den „Schicht-Wechsel“-Stadtführungen geht es uns darum, die Sichtweise auf soziale Schichten, Armut und Behinderung, Sucht und Ausgrenzung zu prüfen. Ich will nicht sagen ändern, prüfen ist schon ganz gut. Die Touren führen Frauen und Männer, die selbst auf der Straße gelebt haben, Drogenprobleme hatten oder wissen wie es ist arm zu sein. Als Expertinnen und Experten berichten sie über persönliche Erfahrungen und leisten somit Aufklärung. Führungen in dieser Art gibt es in vielen Städten. Wir waren jedoch die ersten, die sich dafür entschieden, auf der Tour in Einrichtungen zu gehen. Mittlerweile beteiligen sich über 40 Einrichtungen und so konnten wir fünf Touren mit unterschiedlichen Schwerpunkten konzipieren, die verschiedene Orte der Hilfe und Armut aufsuchen. Dabei kommt es zu Schwellenüberschreitungen, weil die Menschen im normalbürgerlichen Leben nicht in Austausch mit Betroffenen kommen oder diese Einrichtungen betreten. Daher sind die Führungen sehr gefragt, besonders von Gruppen, wie Schulklassen, FSJler, Studenten, Betrieben und angehenden Polizisten.

Sie haben bereits anklingen lassen, dass sich mit der Corona-Pandemie viel für den Straßenkreuzer verändert hat. Wie sieht die Situation bei Ihnen aus?

Die Pandemie hat vieles verändert. Für den „Schicht-Wechsel“ haben wir neue Formate, wie Außenführungen oder virtuelle Führungen, gefunden. Doch die Uni ist just seit unserem 10. Jahr ein Brachland und bereitet Sorgen. Wir haben mehrere Anläufe gemacht. Das ist mittlerweile auch keine Option mehr, weil es wirklich keine Räume gibt und es auch niemand verantworten kann. Online ist für uns keine Alternative, weil wir direkten Kontakt zu den Menschen brauchen. Bei der Uni geht es um Wertschätzung, Wahrnehmen, in Austausch treten. Hier braucht man mehr als nur die Möglichkeit Worte zu sagen.


Titelbild: © Stadt Nürnberg, Bildungsbüro